Die Geschichte hinter einer Tätowierung – oder: Corona auf der Haut

Wir alle haben sie: Ereignisse, die unser Leben, unser Denken, unser Empfinden und damit unser Sein bewegen, verändern oder prägen. Sei es ein Erlebnis in der Kindheit, die Geburt eines Kindes, der Verlust eines geliebten Menschen, die Liebe oder eine andere Erfahrung. Was uns bewegt und wie, ist dabei sehr individuell und kann für jede_n von uns anders aussehen.

Geteilte Geschichten bereichern alle Beteiligten

Oft sind es ebensolche Erlebnisse und Erfahrungen, die als Motiv für eine Tätowierung gewählt werden. Die Lebensereignisse und deren Bedeutung sollen symbolisch und manchmal auch ganz konkret festgehalten werden. Sei es als Erinnerung, als Mahnmal, als Ziel oder als eine Art Kompass: Unter bzw. auf der Haut sollen sie ein Leben lang sichtbar sein. Für einen selber und auch – je nach dem – für die Umwelt.

Als Tätowierer Teil dieser Geschichten zu sein und sie während der Vorbereitung und des Tätowierens persönlich von den Kundinnen und Kunden zu erfahren und mich darüber auszutauschen, berührt und prägt auch mich selbst immer wieder. Die Gedanken und Emotionen der Menschen geben mir immer wieder aufs Neue Anstösse in meinem eigenen Denken und erweitern so meinen Horizont. Das ist es, was ich an meiner Arbeit am meisten schätze.

Corona als prägendes Lebensereignis

Tief beführt hat mich auch die Geschichte und Gedankenwelt hinter dieser Tätowierung, die ich kürzlich auf den Unterarm eines Kunden tätowieren durfte. Ganz im Gegenteil zu dem, was nun viele denken mögen, hat mich das Motiv jedoch nicht zu polarisierenden Gedanken geführt. Der Kunde wollte das Coronavirus als Motiv erarbeiten, wobei ihm viel daran lag, keine Pro- oder Kontra-Stellung zum Thema einzunehmen. Sein Ziel war vielmehr, COVID-19 als Phänomen festzuhalten, dass sein Leben als auch das Leben vieler anderer stark geprägt und auch verändert hat. Er selbst hat während der Pandemie viel erlebt, als Individuum, als Ehemann, als Vater und auch als Mitglied der Gesellschaft. Das Erlebte hat ihn stark bewegt und beeinflusst sein Leben und das seiner Umgebung weiterhin – wird es wohl auch noch eine ganze Weile lang. Und so haben wir gemeinsam eben dieses Bild kreiert, das nun seinen Unterarm ziert, klar und sichtbar.

Wenn gemeinsam Erlebtes zur Spaltung führt

Die Arbeit an dieser Tätowierung hat auch mich darüber nachdenken lassen, was seit dem Beginn der Pandemie alles geschehen ist. Dabei beobachte ich, dass das duale Denken, das bereits durch die ganze Digitalisierung angefacht wird, sich noch mehr verstärkt und verbreitet hat. Immer mehr wird “digital” gedacht und gehandelt. Es gelten Einsen und Nullen, nach rechts oder links swipen, ja oder nein, pro oder kontra. Mit der stets steigenden Menge an Informationen, sinkt unsere Zeit und unsere Aufmerksamkeit, die wir für jede einzelne aufwenden bzw. aufwenden können. Wir denken immer mehr dual, es gilt entweder oder. 

Dieses Phänomen wird gerade auch von der Pandemie angeschürt. Die Gesellschaft spaltet sich immer mehr, die Lager verhärten sich. Eigentlich schade, wenn man bedenkt, dass eben diese Pandemie uns alle auf die eine oder andere Art und Weise betroffen hat. Ganz egal wie und wie stark, es gibt niemanden, der nicht in irgendeiner Form von COVID-19 betroffen ist. Doch obschon wir als Gesellschaft die Pandemie gemeinsam erleben, separieren wir uns (auch) diesbezüglich immer mehr. In Befürworter und Gegner, in Leugner und Nicht-Leugner, in Geimpfte und Nicht-Geimpfte usw. Betrüblich, nicht?